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Interview

„Die Mehrheitsgesellschaft muss Zivilcourage zeigen“

Wie sind die zunehmenden Drohungen und Angriffe gegen Kommunalpolitiker/innen einzuordnen? Marcus Kober vom Deutschen Forum für Kriminalprävention über die unsichere Datenlage – und wie sich Zivilgesellschaft und Bürger engagieren können. 

Marcus Kober vom Deutschen Forum für Kriminalprävention

Marcus Kober vom Deutschen Forum für Kriminalprävention

Dass Kommunalpolitiker/innen bedroht werden, ist seit dem Mord an Walter Lübcke 2019 ein öffentliches Thema, aber das Problem ist älter. Wie würden Sie die Entwicklung zeitlich einordnen?

Eine erste Welle von Bedrohungen erlebten Kommunalpolitiker/innen in den Jahren 2015 bis 2017, also mit Beginn der Aufnahme einer großen Anzahl von Flüchtlingen in Deutschland. Aber auch in den Jahren davor wurden schon Aggressionen und Gewalt gegen Mitarbeitende von Kommunalverwaltungen verzeichnet. Dabei ist schwer zu beantworten, ob die ermittelten Zahlen Ausdruck eines sich verschärfenden allgemeinen Klimas in der Gesellschaft sind oder Bedrohungen und Angriffe aufgrund gestiegener Aufmerksamkeit vermehrt wahrgenommen werden. Es fehlen für eine solche Einschätzung leider belastbare Vergleichsdaten über einen längeren Zeitraum. Fest steht aber: Es gibt eine Problematik, der wir uns stellen müssen.

Kommunalpolitiker/innen sind durch ihre Bürgernähe eine besonders exponierte Gruppe, aber längst nicht die einzigen, die zunehmend Hass und Gewalt begegnen. 

Das stimmt. Hass und Gewalt gegen Kommunalpolitiker/innen sind in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, aber in der letzten Dekade sind zahlreiche Studien auch zu Gewalterfahrungen in anderen Gruppen durchgeführt worden. Dazu zählen Amtsträger wie Polizistinnen und Polizisten, Rettungs- und Feuerwehrkräfte, Mitarbeitende der öffentlichen Verwaltung, Lehrpersonal an Schulen, Justizangestellte, Ärztinnen und Ärzte oder Personal im öffentlichen Personenverkehr.

Dabei reicht das Spektrum von Beleidigungen, unflätiger und respektloser Kommunikation über Bedrohungen und aggressives Verhalten bis zur Anwendung psychischer und physischer Gewalt. Auch wenn ein Anstieg der Gewalt statistisch nicht zweifelsfrei zu belegen ist, sprechen diese Befunde doch für einen Anstieg von Gewaltakten in einem definitorisch weiten Sinne.

Eindeutig weisen diese Studien außerdem darauf hin, dass Aggressionen und Gewalt in einem hohen Maße als Belastung von den Betroffenen wahrgenommen werden und diese sich vielfach alleingelassen und nicht ausreichend unterstützt fühlen.

„Wir müssen davon ausgehen, dass das Dunkelfeld der nicht angezeigten Straftaten hoch ist.“

Die Angriffe auf Amts- und Mandatsträger verteilen sich aktuellen Zahlen der Bundesregierung zufolge über alle Parteien, die Motive können teilweise nicht zugeordnet werden. Wie deuten Sie die Lage?

Zunächst muss man wissen, dass wir auch hierzu keine Langzeitdaten haben. Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger werden seit 2018 in der Statistik zur „Politisch motivierten Kriminalität“ (PMK) ausgewiesen. Das Ausmaß dieser Kriminalität hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Von den 1.674 registrierten Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger im Jahr 2019 handelte es sich in 89 Fällen um Gewaltdelikte, was einen klaren Anstieg im Vergleich zum Vorjahr mit 1.256 Straftaten und 43 Gewaltdelikten bedeutete. Der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke zufolge weisen vorläufige Fallzahlen für das Jahr 2020 erneut auf einen Anstieg hin: sowohl bei den Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger insgesamt als auch bei den  Gewaltdelikten im Speziellen. Am stärksten waren demnach von den politisch motivierten Straftaten insgesamt wie auch von den Gewaltdelikten Politiker/innen der AfD betroffen, mit Abstand folgten SPD, CDU, Bündnis 90 / Die Grünen, Die Linke, FDP und CSU. Interessant und widersprüchlich zum Bauchgefühl, das viele Menschen haben: Mit Blick auf Hasspostings, die seit 2017 ebenfalls in der PMK-Statistik ausgewiesen werden, ist in den letzten Jahren kein kontinuierlicher Anstieg registrierter Straftaten festzustellen. Allerdings ist bei allen Zahlen zu berücksichtigen: Aufgrund einer großen Anzahl von Beleidigungen, Nötigungen und Bedrohungen, die anonym im Internet und in sozialen Medien begangen wurden, lassen sich viele Delikte politisch nicht eindeutig zuordnen. Und grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass das Dunkelfeld der nicht angezeigten Straftaten in den genannten Bereichen groß ist. Die Statistiken der Strafverfolgungsbehörden liefern deshalb nur ein unscharfes Bild des Gesamtphänomens. Das müssen wir bei allen Debatten um dieses Thema im Kopf behalten.

Hass und Gewalt sind nicht allein durch Gesetze und Verordnungen einzudämmen, auch die Zivilgesellschaft muss aktiv werden. Wo sehen Sie vielversprechende Ansätze und wo noch Handlungsbedarf?

Wie gerade auch dieses Portal „Stark im Amt“ zeigt, sind in den letzten Jahren Angebote entstanden, die Gegenrede organisieren, von Hass und Gewalt betroffene Kommunalpolitiker/innen informieren und unterstützen oder sich für respektvollere Kommunikation im Netz stark machen. Das sind wichtige und richtige Schritte, um Hass und Gewalt entgegenzuwirken. Diese guten Beispiele sollten Schule machen und weitere Verbreitung finden. Allerdings bedarf es darüber hinaus der Zivilcourage einer Mehrheit der Gesellschaft, sich sichtbar und deutlich mit Betroffenen zu solidarisieren. Es gilt in vielen Lebensbereichen, einer latenten Aggressivität und zunehmenden Verrohung in der Gesellschaft entgegenzuwirken.

Welche Rollen können Stiftungen wie das Deutsche Forum für Kriminalprävention übernehmen, um zur Verbesserung der Situation beizutragen?

Stiftungen und andere gemeinnützige Organisationen können dazu beitragen, vorhandene Probleme wie auch Hilfe- und Unterstützungsangebote sichtbarer zu machen. Für entsprechende Recherchen und eine reichweitenstarke Darstellung fehlen anderen Akteuren vielfach die Ressourcen. Außerdem können Stiftungen die Engagierten vernetzen und miteinander ins Gespräch bringen. Auch das Deutsche Forum für Kriminalprävention sieht genau darin seine Kernaufgabe: im Zusammenbringen von Erfahrung und Expertise, in unserem Fall vor allem aus der Wissenschaft, den Sicherheitsbehörden, der Justiz und natürlich aus der Zivilgesellschaft. So wie sich die Herausforderungen im Bereich der inneren Sicherheit insgesamt dynamisch verändern, so muss auch das Miteinander dieser Akteure immer wieder angepasst werden. Die Arbeit wird uns und den Stiftungen allgemein in diesem Feld also nicht ausgehen.

Interview: Martin Meister 

Mehr zur Person

Marcus Kober ist studierter Politikwissenschaftler und Soziologe und arbeitet beim Deutschen Forum für Kriminalprävention. Seit 2001 engagiert sich die gemeinnützige Stiftung für die Förderung der Kriminalprävention. Dazu unterstützt sie die Vernetzung und Kooperation staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, den Wissenstransfer von wissenschaftlichen und Best-Practice-Erkenntnissen und betreibt Öffentlichkeitsarbeit zur Sensibilisierung und Förderung der Mitwirkungsbereitschaft aller gesellschaftlichen Kräfte.