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Interview

Was die Menschen rasend macht

Der Soziologe Armin Nassehi engagiert sich in der Politikberatung in der Corona-Krise und beschäftigt sich in seinem jüngsten Buch „Das große Nein“ mit der neuen Protestkultur und der großen Frage: Woher kommt die Wut der Wutbürger?

Professor Nassehi, in alten Filmen und Romanen sitzen oft der Bürgermeister, der Pfarrer und der Lehrer in der Dorfwirtschaft und halten Hof. Heute häufen sich die Angriffe auf die einstigen Respektspersonen: Woran liegt das?

Erst kürzlich las ich, dass ein Rettungswagen angegriffen wurde, in dem gerade ein Mensch reanimiert wurde. Aber ein Wutbürger dachte, er hätte das Recht, genau an dieser Stelle zu parken und rastete aus. Das ist so absurd, dass man es sich kaum vorstellen kann. Hier kommt auf radikale Weise eine Elitenkritik zum Zug. Was die angegriffenen Akteure gemein haben, ist, dass sie eine Form von Ordnung repräsentieren; also scheinbar in der Lage sind, anderen zu sagen, was sie tun sollen. Und das wollen die Leute nicht, das macht sie rasend.

Das heißt, man hat nicht unbedingt etwas falsch gemacht, wenn man zum Ziel der Wut geworden ist?

Diese Wut kann alle Repräsentanten einer Macht treffen, die für eine offizielle oder staatsnahe Ordnung steht. Ich hatte zuletzt eine Diskussion mit Mitarbeitenden der Deutschen Bahn: Dort bekommen die Schaffnerinnen und Schaffner inzwischen beigebracht, wie sie die Leute dazu bekommen, ihre Fahrkarte zu zeigen. Der Satz „Fahrkarten, bitte“ wird heute als Befehl missverstanden und funktioniert deshalb nicht mehr. Stattdessen muss das Bahn-Team pädagogische Tricks anwenden. Es ist absurd: Die Leute müssen wie Kinder behandelt werden, damit sie nicht ausflippen.

In Ihrem jüngsten Buch „Das große Nein“ setzen Sie sich mit den rechten Protestbewegungen des 21. Jahrhunderts wie Pegida oder den „Querdenkern“ auseinander.

Protestiert wird immer dann, wenn eine Gruppe das Gefühl hat, dass ihre Interessen und Themen in den politischen, juristischen und diskursiven Verfahren des sogenannten Systems nicht angemessen repräsentiert werden. Dieses Gefühl des Verlassenseins führt dann dazu, dass aus dieser Warte alle Parteien links von der AfD zu einer Art feindlichem Establishment verschmelzen. Sowohl Pegida als auch heute die „Querdenker“ setzen sehr stark auf die Überzeugungskraft des Elitenkritik-Narrativs: „Die Herrschenden“ übergehen den eigentlichen Willen des Volkes, ziehen unsichtbare Fäden in irgendwelchen Hinterzimmern. In diesem klassisch antisemitischen Motiv ist der US-Milliardär Bill Gates zuletzt zur zentralen Figur geworden, obwohl er gar kein Jude ist.

 

Aber woher kommt die Wut der Wutbürger?

Als Soziologe würde ich sagen: Es gehen Latenzen verloren. Viele Dinge sind nicht mehr selbstverständlich. Plötzlich haben die Leute das Gefühl, dass sie nicht mehr sagen können, was sie wollen. Also sie dürfen es natürlich schon noch sagen, und machen das auch ständig, müssen plötzlich aber mit Gegenrede rechnen. Und das ist dann für manche schon zu viel. Die wollen einfach weiterhin Heimatlieder über den grünen Wald singen, ohne sich Vorwürfe über ihren CO2-Fußabdruck anzuhören. Das macht eine gewisse Klientel fuchsig, die mit dem alten politischen Begriff „konservativ“ nur schlecht beschrieben werden kann. Es handelt sich um Menschen, die nicht gewillt sind, die Multioptionalität der Gegenwart auszuhalten. Die einer Vergangenheit nachhängen, in der Dinge vermeintlich einfach geregelt waren und in der man sich nicht ständig für Entscheidungen rechtfertigen musste.

 

„Die Konflikte entzünden sich an Themen wie Geschlechterfragen, Migration, Sprachregelungen – alles Dinge, die sich stark symbolisch aufladen lassen.“

Wie meinen Sie das genau?

Interessant ist doch, an welchen Themen sich die Konflikte entzünden. Geschlechterfragen, Migration, Sprachregelungen, also alles Dinge, die sich stark symbolisch aufladen lassen, weil sie für eine angeblich immer schon gültige Ordnung stehen. Das gilt übrigens für Gruppen ganz unterschiedlicher Couleur, keineswegs nur für solche aus klassisch rechten Milieus. Die Wut zielt ja nicht auf komplexe Zusammenhänge, sondern auf Sichtbares oder zumindest darauf, was irgendwie sichtbar aussieht. Das Ostentative, die Sichtbarkeit, spielt bei der Herstellung von Sündenböcken eine ganz große Rolle.

Das Symbol ist also mächtiger als die Realität?  

Alexander Gauland hat die Flüchtlingskrise als „Geschenk“ für die Partei bezeichnet. Die AfD nutzte sie, um ihr Profil zu schärfen. Ähnlich machen es die „Querdenker“ heute auch. Ich würde mal vermuten, dass es vielen von denen gar nicht um die Pandemie und Hygienekonzepte geht. Aber plötzlich können sie in der Aufforderung, eine Maske zu tragen, einen allgemeinen „Maulkorbzwang“ erkennen. Mit Symbolen wie Maulkorb, Gender-Wahnsinn, „großer Austausch“ der Bevölkerung behauptet der rechte Rand die generelle Illegitimität unserer Gesellschaftsordnung.

Glauben Sie, dass die Proteste die Corona-Pandemie überdauern?

Kritik an den Herrschenden war historisch gesehen fast automatisch links, weil man die politische oder ökonomische Eliten für zu rechts hielt. Dazu gehörte auch, für das sogenannte Volk zu sprechen. Diese Positionierung und das ästhetische Programm des Protests wurden zuletzt von der Rechten übernommen. Die Blaupause dafür war Pegida. Ich habe das selbst auf Demos beobachtet: Man arbeitet sich immer an der Grenze des Sagbaren ab. Es fing an mit einer noch relativ unverdächtigen Selbstbeschreibung – „wir sind Patrioten“ – und schon bald darauf wurden Galgen durch die Straßen getragen. Das machten sie natürlich, weil sie um die Provokation wussten. Das Ganze folgte einer Steigerungslogik.

Ist dafür auch die Kommunikation im Netz verantwortlich?

Das Netz funktioniert wie ein Durchlauferhitzer: Noch nie konnte eine so große Anzahl von Menschen so niederschwellig radikalisiert werde. Ich habe mir rund um die Vereidigung von US-Präsident Joe Biden einige Plattformen, auf denen sich unter anderem die Spinner von QAnon austoben, live angeguckt: Mich hat das an das Gebrabbel der K-Gruppen in den 1970er Jahren erinnert. Die saßen den ganzen Tag rum und planten die Weltrevolution. Das war natürlich weit weg von jeder Realität und hatte, weil das Ganze in verrauchten Stuben und Bauernhof-Kommunen auf dem platten Land stattfand, auch keine Folgen. Heute hingegen findet dieses Gebrabbel quasi in der Öffentlichkeit statt. Die Leute gucken sich gegenseitig beim Zugucken zu und steigern sich so gegenseitig.

Welche Folgen hat das?

Sehr viele Menschen werden in einen Korridor des Denkens hineingetrieben. Und einige sind sich dann sehr schnell darin einig, dass Joe Biden, Angela Merkel oder sonstige Repräsentanten des Systems beseitigt werden müssen. Kaum ein Mensch würde diesen Gedanken in die Realität umsetzen. Aber Leute, die gewaltbereit sind, können sich dadurch bestätigt fühlen. Und schon einer ist dann zu viel.

Interview: Paul-Philipp Hanske

Mehr zur Person

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie in München. Er ist Mitglied zahlreicher Gremien wie der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Deutschen Nationalstiftung und des Ethikverbands der deutschen Wirtschaft. Er hat viele Bücher geschrieben, darunter: „Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft“ (2019) und „Das große Nein – Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests“ (2020).