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Interview

„Was im Netz passiert, hat mit politischem Diskurs nichts zu tun“

Belit Onay ist einer der ersten Deutschen mit Migrationshintergrund, die zum Oberbürgermeister einer Großstadt gewählt wurden. Seit dem Abend seines Wahlsiegs kommt es immer wieder zu rassistischen Bedrohungen und Beleidigungen. Im Rathaus verschanzen will er sich trotzdem nicht.

Der Oberbürgermeister von Hannover Belit Onay

Belit Onay ist seit 2019 Oberbürgermeister von Hannover

Herr Onay, Sie sind seit November 2019 Oberbürgermeister von Hannover. Was gefällt Ihnen besonders gut an diesem Amt? Und was ist eine ständige Herausforderung?

Was meinen Job auszeichnet, ist, dass die Entscheidungen, die man hier trifft, die Projekte, die man voranbringt, ganz nah an der Lebensrealität der Menschen sind, die in Hannover leben. Das ist eine schöne Erfahrung, weil man im ständigen Austausch mit den Bürger/innen steht. Die permanente Herausforderung ist aktuell natürlich: Corona, Corona, Corona. Das ist echt ätzend. Im Februar 2020 waren meine ersten 100 Tage vorbei, dann ging es gleich in den Krisenmodus. Und in dem befinden wir uns leider heute noch.

Ist es eine Bürde oder eine Ehre, der erste Deutsche mit Migrationshintergrund im Amt eines Oberbürgermeisters zu sein?

Es macht mich schon sehr, sehr stolz. Denn ich weiß, dass viele Menschen eine Hoffnung damit verknüpfen. Aber ich weiß auch, dass es bei anderen Menschen oft Wut und Hass auslöst. Das zeigt mir, dass es zu wenige Menschen mit Migrationshintergrund in der Politik gibt – vor allem in der ersten Reihe.

Sie sind in Goslar geboren, haben dort Abitur gemacht und Zivildienst geleistet, dann in Hannover Jura studiert. Inwieweit spielt die Migrationsgeschichte Ihrer Familie für Sie überhaupt eine Rolle?

Sie ist Teil meiner Identität und Lebensgeschichte. Sie hat meinen Blick auf die Welt und auf die Politik geprägt. Ich wurde zweisprachig erzogen, kenne beide Länder, beide Kulturen. Und ich kenne die Situation in Deutschland für Menschen mit Migrationshintergrund: Diskriminierung, Rassismus; aber auch die positiven Effekte, die Vielfalt in der Gesellschaft. Aber ich bin ja nicht nur Mensch mit Migrationshintergrund. Ich bin auch Jurist, Ehemann, Vater, Sportler.

„Eine Frau sagte flapsig zu mir: ‚Herr Onay, es ist mir total egal, wo Sie herkommen. Ich will wissen, wo Sie hinwollen.‘“

Hatten Sie mal das Gefühl, dass die Herkunft Ihrer Eltern andere Themen überlagert?

Im Wahlkampf war das kein großes Thema. Am Wahlkampfstand im Stadtzentrum hat mich mal eine Frau sehr flapsig angesprochen, die sagte: „Herr Onay, es ist mir total egal, wo Sie herkommen. Ich will wissen, wo Sie hinwollen.“ Wir sind dann ins Gespräch gekommen über meine Wahlziele. Das hat mir noch mal klargemacht, dass es für die Menschen in Hannover doch Wichtigeres gibt als meine Familiengeschichte. Zum Beispiel: Da kommt ein Grüner, der will die autofreie Innenstadt, Klimaschutz, die Mobilitätswende und ein digitales Rathaus. Anfeindungen aus rassistischen oder rechtsextremen Kreisen waren zunächst Randerscheinungen.

Wann hat sich das geändert?

Mit meinem Wahlsieg. Ich habe am Wahlabend nicht mehr auf mein Handy geguckt, sondern gefeiert. Aber am nächsten Morgen kamen die Hasskommentare im Sekundentakt auf Twitter und Facebook. Wir haben schnell die Polizei eingebunden, die auch sehr unterstützt hat. Aber am Tag nach dem Wahlsieg hatte ich emotional wirklich einen Tiefpunkt, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass es so schlimm werden würde. Ich hatte das Gefühl, dass da Menschen mit Mistgabeln und Fackeln draußen stehen und mich hassen.

Wurde Ihre Familie auch bedroht?

Leider ja. Es ist schon krass, was für eine Mühe sich diese Menschen machen. Es sind ja nicht nur Einzeiler, die per E-Mail kommen, sondern ellenlange Abhandlungen und Briefe, die nur den Zweck haben, mich zu beleidigen, zu bedrohen oder zu diffamieren. Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen dem, was in den sozialen Netzwerken passiert, und wie mir die Menschen hier in Hannover begegnen, nämlich höflich, freundlich, manchmal auch kritisch.

Brauchen Sie gelegentlich Polizeischutz?

Nein. Das möchte ich auch nicht. Zu Beginn hat die Polizei mich beraten, mir gesagt, worauf ich achten, wovon ich mich fernhalten muss. Das habe ich auf dem Schirm. Am Anfang hatte ich zwar manchmal das Gefühl, ich würde paranoid werden, beim Aussteigen aus der Bahn oder beim Spazierengehen in der Stadt. Aber ich will mein Leben aus solchen Gründen nicht verändern. Ich bin glücklich, so wie ich hier lebe. Ich lasse nicht zu, dass der Hass in meinem beruflichen, politischen oder privaten Umfeld zu viel Raum einnimmt.

Wie gehen Sie bei der Stadt Hannover mit Hassrede im Netz um?

Ich bin total offen für kritischen Austausch, für politischen Streit, das Ringen um die beste Idee. Aber das, was da im Netz passiert, hat nichts mit politischem Diskurs zu tun. Das müssen sich auch meine Mitarbeiter/innen nicht gefallen lassen. Beleidigende oder diffamierende Aussagen verbergen oder löschen wir deshalb und bringen sie auch zur Anzeige bei der Polizei.

Gibt es auch Positives, was Sie im Umgang mit Anfeindungen erlebt haben?

Ich habe sehr viel Solidarität erfahren. Das hat mir den Rücken gestärkt, gerade nach meiner Wahl. Es gab sogar einen Faktencheck auf der Website der „Tagesschau“, weil viele Unwahrheiten über mich verbreitet wurden. Auch aus dem politischen Raum kam viel Unterstützung. Der Ministerpräsident Stephan Weil hat sich zu Wort gemeldet, die Fraktionen im Landtag, der Niedersächsische Städtetag, Kommunalpolitiker/innen. Das war auch für meine Familie gut. Allerdings stehe ich als OB natürlich auch stärker im Fokus als andere Menschen in der Kommunalpolitik, die Anfeindungen ertragen müssen. Die fühlen sich vermutlich stärker alleingelassen. Und dagegen muss man etwas tun.

Es ist vermutlich eine Gratwanderung: offen über Hassrede zu sprechen und Nachwuchspolitiker/innen nicht zu verschrecken?

Als Politiker wird man nicht als Individuum angefeindet, sondern weil man für etwas steht und Verantwortung übernimmt für die Gesellschaft. Deshalb finde ich es wichtig, dass man Anfeindungen publik macht und Unterstützung einfordert: in dem Gremium, in dem man sitzt, in der Stadt oder Gemeinde.  Niemand darf wegen seiner politischen Haltung oder seines Amtes solchen Anfeindungen ausgesetzt werden. Da braucht es klare Solidarität, aus dem politischen Raum und auch aus der Verwaltungsstruktur.

Im Jahr 2013 wurde der Hamelner Landrat Rüdiger Butte in seinem Büro von einem Bürger niedergeschossen und tödlich verletzt. Danach wurde in Niedersachsen diskutiert, wie zugänglich öffentliche Räume sein sollten. Wie sehen Sie das?

Natürlich haben wir Sicherheitsvorkehrungen. Aber ich bin nicht gewählt worden, damit ich im Rathaus herumsitze, sondern damit ich mit den Menschen in einen Austausch komme und die Herausforderungen der Stadt löse. Das funktioniert nicht, wenn man sich zurückzieht. Es wäre auch völlig falsch, weil sich die Täter genau das erhoffen.

Aber ich werde ja nicht nur im Rathaus in offizieller Funktion angesprochen, sondern auch wenn ich beim Einkaufen bin, auf dem Spielplatz mit meinen Kindern oder wenn ich spazieren gehe. Und das ist auch in Ordnung, dafür bin ich da.

Interview: Katharina Kutsche

Belit Onay, geboren 1981, ist Jurist und saß sechs Jahre für die Grünen im niedersächsischen Landtag. Im Oktober 2019 wurde er zum Oberbürgermeister von Hannover gewählt, nachdem sein Amtsvorgänger wegen eines Ermittlungsverfahrens in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war. Onays Eltern kamen aus der Türkei nach Deutschland – was dem Vater zweier Kinder beinahe täglich rassistische Anfeindungen einbringt.